Shi Dechan   释德禅




Einer der herausragenden Mönche des Shaolin-Tempels  der Neuzeit ist Shi Dechan. Die 86 Jahre seines Lebens erstreckten sich über das 20. Jahrhundert, eine Zeit, die den Menschen in China dramatische Umbrüche im gesellschaftlichen und kulturellen Bereich  brachte. Shi Dechan ist einer  der wenigen Mönche, die - Repressalien, Gefahren wie auch Verlockungen zum Trotz - dem Shaolin-Tempel nie den Rücken zugekehrt, sondern sich stets für seinen Erhalt und für das Überleben der Shaolin-Kultur eingesetzt haben. Zudem vereinigt er in seiner Person die drei Säulen der Shaolin-Kultur : Chan-Buddhismus,  Kampfkunst und Traditionelle Chinesische Medizin. Einige der heutigen Shaolin-Mönche und -Meister haben ihn noch kennengelernt und konnten an seinem vielfältigen Wissen und seinem außergewöhnlichen Erfahrungsschatz teilhaben.


1. Shi Dechan



Die Jugendjahre

Früh in seinem Leben lernte Shi Dechan,- mit weltlichem Namen Liu Erhe (刘二和),- Armut und Not kennen.*1 Er wurde 1907 in dem Dorf Zuo Zhuang (左庄 / Cheng Guan Zheng) im Kreis Dengfeng der chinesischen Provinz Henan (登封市,河南省) als Sohn einfacher Eltern geboren. Schon als Kind mit dem Verlust seines Vaters konfrontiert, war er gezwungen, seine Familie zu verlassen. So kam er im Alter von 9 Jahren in den Shaolin-Tempel, wo ihn der Chanmeister Suguang (素光禅师) als Schüler annahm. Nach nur einem Jahr verstarb Suguang und Dechan wurde an die Mittelschule des Shaolin-Tempels  geschickt, die er 1920 erfolgreich abschloss. „Anfangs war es sehr schwer, ich habe oft geweint, aber ich lernte bald, Schmerzen durch Konzentration zu überwinden“, erzählte Shi Dechan in den 80er Jahren in einem Interview der Zeitschrift „Spiegel“ über seine ersten Jahre im Shaolin-Tempel. Und: "Ein Shaolin-Mönch zu sein und nicht Kungfu zu beherrschen, wäre eine schreckliche Schande gewesen"*2 .
Shi Zhenjun (貞俊, 1865-1939) - sein „Meister-Großvater“ (师爷) und eine Autorität im Tempel - erkannte die Intelligenz des Jungen und seine Eignung zu einer intellektuell anspruchsvollen Tätigkeit. Er schickte ihn zu Meister Jixue (寂学), einem bekannten buddhistischen Möncharzt  im Huangwan-Kloster (黄湾庙) sowie zu dem alten Mönch Zhanying (湛盈) im Jingang-Tempel (金刚寺) in die Lehre, um ihn in Traditioneller Chinesischer Medizin und in buddhistischer Kloster-Medizin ausbilden zu lassen. Dechan erwarb von den Meistern ein profundes Wissen, studierte intensiv die medizinischen Klassiker und graduierte 1924 mit ausgezeichneten Noten.  Er legte im Guiyuan-Tempel  (归元寺) in Wuhan  (武汉) das Mönchsgelübde ab und wenig später -  im Mai 1924 - wurde er in den Huishan-Tempel (会善寺) geschickt.  In diesem Nebentempel des Shaolin-Klosters übernahm er  nach kurzer Zeit die Funktion als  Leister der Besucherhalle bzw.  "Gästebetreuer"  (知客) und Mönchsarzt (僧医), dann als Klostervorsteher bzw. -aufseher (监院).

1927 kehrte er in den Shaolin-Tempel zurück und wurde  dort in den gleichen Ämtern eingesetzt. In diesem Jahr befand sich der Tempel schon in einem Strudel von Ereignissen, der wenig später fast zu seinem kompletten Untergang geführt hätte und somit auch Dechans Leben stark beeinflusste, es jedoch nicht aus der Bahn werfen konnte.




Kriegswirren

China und in besonderem Maß die Provinz Henan waren zu jener Zeit von bürgerkriegs-ähnlichen Verhältnissen und den Kämpfen diverser Kriegsherren bestimmt. Nach dem Zusammenbruch des letzten Kaiserreichs Chinas hatten sich verschiedene militärische Gruppen um Generäle der ehemaligen nordchinesischen Peking-Armee gebildet, die sogenannten „Nördlichen Militaristen“. Sie kämpften um die Vormacht im Land, wobei  die errungenen Siege jeweils nur von kurzer Dauer waren und für keinerlei Stabilität sorgten. Fraktionen und Bündnisse der beteiligten Gruppen wechselten häufig und unvorhersehbar.  Um den permanenten Kriegswirren ein Ende zu setzen und das Land wieder zu einen, begann 1926 Chiang Kai-shek (蔣介石 Jiǎng Jièshí) mit seiner Armee der Guomindang (国民党), den sogenannten „Nordfeldzug“ (北伐) gegen diese Kriegsfürsten. In dessen Verlauf beteiligte sich auch eine Schutztruppe des Shaolin-Tempels an den Kriegshandlungen,- jedoch auf der gegnerischen Seite. Am 6. März 1928 wurde der Shaolin-Tempel von auf Seiten der Guomindang kämpfenden Truppen unter Führung des Leutnants Shi Yousan (石友三) in Brand gesetzt. Der Brand soll über 40 Tage lang angedauert haben, er zerstörte einen Großteil des Klosters und verwandelte viele seiner historischen Kulturgüter in Asche.
Nach den Angaben des Shaolin-Mönchs Shi Deqian (释德浅) aus dem Jahr 1984, soll Shi Dechan in dieser Situation nicht wie viele andere Mönche die Flucht ergriffen, sondern die Kampfmönche des Tempels versammelt haben, um mit ihnen den Besitz des Klosters zu schützen und gegen die Guomindang-Truppen zu kämpfen. Anderen Quellen zufolge gab es aufgrund der Übermacht der Guomindang-Truppen keine Kampfhandlungen seitens der Shaolinmönche. Gleich ob er anfangs den Tempel gegen die Truppen Shi Yousans verteidigte oder nicht, letztendlich musste Shi Dechan mit den anderen Mönchen in die umliegenden Berge flüchten, wo sie sich eine Weile versteckt hielten.  
Als gesichert gilt, dass es Shi Dechan und auch anderen Mönchen gelang, im Verlauf der Besetzung und Brandschatzung des Klosters, unter Einsatz ihres Lebens verschiedene Bücher und Dokumente von historischem Wert (unter anderem Teile des buddhistischen Kanons und des Shaolin-Faustkampf-Kompendiums)  zu bergen. Nachdem die Truppen abgezogen waren, kehrten sie in den Tempel zurück und begannen mit den Aufräumarbeiten. Ab dieser Zeit bis zur Kulturrevolution sollen im Shaolin-Tempel nur noch ca. 30 Mönche gelebt haben.

 2. Shi Xingci (links), Shi Dechan (Mitte), Shi Suxi (rechts), Shi Yongwu (oben)




Räuberbanden, Epidemien und Armut

1929 brachte Dechan die Bücher und Dokumente, die er an einem geheimen Ort verwahrt hatte, zurück in den Tempel. Er reiste zu verschiedenen Tempeln in Henan wie Fengxue-Tempel (风穴寺) und Qianming-Tempel (乾明寺), um dort seine buddhistischen Studien zu vertiefen und mit seinen medizinischen Kennnissen zu helfen. Dabei kam er durch vier Orte, in denen die Bewohner an den Rand ihrer Überlebensfähigkeit gelangt waren. Als Ursache nannten sie die „Drei großen Übel“, die nacheinander aufgetreten waren: eine Epidemie, die „Rotbärte“ und die „Schwarzbärte“. Mit Letzteren waren zwei Räuberbanden gemeint, die nacheinander über die Dörfer hergefallen waren. Die politische Unsicherheit und die Kriegswirren hatten nämlich  auch die Ausbreitung und Macht der lokalen Räuberbanden verstärkt - besonders in den Provinzen Henan und Shaanxi, die schon von alters her für ihre „Räubernester“ bekannt waren. Diese Banden beteiligten sich ausgiebig an den Kämpfen der Armeen, mal miteinander, mal gegeneinander, und schlossen Allianzen mal mit diesen, mal mit jenen Kriegsherren. Zeitweise arbeiteten sie dann wieder „auf eigene Rechnung“. Dies beinhaltete oft Geiselnahmen: gegen Geldzahlung wurden die Geiseln eventuell wieder frei gelassen, bei ausbleibender Zahlung wurden sie ermordet oder man ließ sie verhungern. Es wird erzählt, dass Dechan mit solch einer Situation konfrontiert wurde: als man ihm von einer Geißelnahme in der Region berichtete, habe er sich, ohne Rücksicht auf seine eigenen Sicherheit,  in den „Tigerrachen“ begeben und den Führer der Räuberbande getroffen. Es heißt, er habe ihm die buddhistische Karma-Lehre erläutert (nach der man stets nur die Frucht seiner Handlungen erntet) und erwirkt, dass zehn Geiseln ohne Geldzahlung freigelassen wurden.

  
1930 konnte Shi Dechan im Verlauf einer Epidemie sein medizinisches Können unter Beweis stellen. Diese Epidemie wies eine besonders hohe Todesrate auf, da die an ihr Erkrankten nicht mehr schlucken und somit keine Medikamente einnehmen konnten. Der Meister erfuhr von einer Familie, in der innerhalb von 20 Stunden sieben Familienmitglieder gestorben waren, die keiner beerdigen konnte, weil alle erkrankt und schon zu stark geschwächt waren. Von dem Leid der Familie getroffen, fand er keine Ruhe. Er überlegte, arbeitete und experimentierte so lange, bis er eine Medizin entwickelt hatte, die den Kranken die Fähigkeit zu Schlucken wieder gab und ihnen somit eine Heilung ermöglichte. Auf diese Weise konnte er Hunderten von Menschen das Leben retten.


3. Shi Dechan, Shi Yongchuan


Shi Dechan hatte ein großes Herz für die Armen. Für seine medizinische Behandlung nahm er von denen, die genug Geld hatten eine Bezahlung an, die Mittellosen bezahlten nichts. Für die Armen war auch seine Hilfe bei Familienfeiern wie Hochzeiten, Trauerfeiern etc. unentgeltlich - er erledigte für sie Behördengänge, besorgte die nötigen Papiere u.v.m. Als in einer armen Familie der Vater zur Armee eingezogen werden sollte, kaufte Dechan ihn mit seinem eigenen Geld frei, da die Familie ohne das männliche Oberhaupt unweigerlich in noch größere Not geraten wäre.




Hoher Besuch und Aufbaumaßnahmen

1936 empfingen Shi Dechan und die anderen Mönche des Shaolin-Tempels einen hohen Gast: General Chiang Kai-shek (蔣介石), den Führer der Guomindang und Gegener Mao Zedongs im damaligen Bürgerkrieg. Als der General am 31. Oktober seinen Geburtstag in der nahegelegenen Stadt Luoyang feierte, entschloss er sich, mit großer Equipage durch den Songshan zu reisen und den Shaolin-Tempel sowie andere Sehenswürdigkeiten der Region zu besuchen. Die Mönche führten ihn durch den Tempel und gaben ihm zu Ehren eine Vorstellung ihrer Kampfkunst, von der er nicht wenig beeindruckt gewesen sein soll. Als er das Ausmaß der Zerstörung des Feuers von 1928 sah, schimpfte er über Shi Yousan „Shi Yousan war schlimm genug“. Es heißt, dass später auf Anordnung von Chiang Kai-Shek hin die Militärtruppe von Shi Yousan eine Grube ausheben mußte, in der ihr Führer „lebendig begraben“ wurde,- wahrscheinlich bezieht sich  dies auf die Ermordung Shi Yousans 1940 (wegen Kollaboration mit den Japanern).
Jahrzehnte später berichtete der Archäologe Wen Yucheng (温玉成) Journalisten eine lustige Begebenheit: Dechan hatte ihm erzählt, dass Chiang Kai-shek sich bei seinem Besuch ziemlich lange im Shaolin-Tempel aufhielt und da man kein Mittagessen für den General eingeplant hatte, schenkte ihm ein Leibwächter einen Becher „Schaum-Schaum“ zum Trinken ein. Wen Yucheng bemerkte den Jounalisten gegenüber lachend, daß  Dechan mit „Schaum-Schaum“ wohl Milch meinte.  (Offenbar kannte Shi Dechan noch keine Milch und konnte sie nur umschreiben). Der Archäologe berichtete weiter, daß Qiang Kai-shek betroffen davon war, im Tempel solch eine Ödnis vorzufinden und daß die  Mönche zu arm waren, sich Mönchskleidung zu leisten. 
Nach einem Bericht, der den Angaben des damaligen Kreisleiters Mao Rucai (毛汝采) folgt, der Chiang Kai-Shek auf dieser Reise begleitete, wurde den Shaolin-Mönchen ein Geldgeschenk von 1000 Yuan überreicht. Später ließ General Chiang dem Tempel eine finanzielle Unterstützung für den Wiederaufbau zukommen.

    
 4. Shi Dechan (links)

In der ersten Hälfte der 40er Jahre kümmerte sich Shi Dechan  mit aller Kraft um die Wiederbelebung und Sicherung der Shaolin Kampfkunst. In dieser kritischen Zeit hatten viele Angehörige des Shaolin-Ordens den Tempel verlassen und waren in den Laienstand gewechselt. Die Vertreter der Shaolin-Kampfkunst waren in alle Winde zerstreut und zu wenige waren da, um diese große Kampfkunst in ausreichendem Maß an die nächsten Generationen überliefern zu können. Gemeinsam mit dem ebenfalls in der Kampfkunst bewanderten Shaolin-Mönch Zhenxu (贞绪) holte Dechan Wu Shanlin (吴山林), den Sohn des für seine Kampfkunst berühmten ehemaligen Shaolin-Mönchs Jiqin (寂勤) als Lehrkraft in den Tempel. Es gelang ihnen, ca. 40 weitere ehemalige Shaolin-Mönche, die in den Laienstand gewechselt waren, zurück in den Tempel zu holen, unter anderem die Meister Degen (德根) und Xingzhang (行章). Diese Gruppe trainierte unter der Leitung Wu Shanlins, der jedoch nach 3 Jahren den Tempel wieder verließ.
In dieser Zeit sammelte und ordnete Dechan zusammen mit anderen Mönchen des Klosters auch das „Kompendium des Shaolin-Faustkampfs“ (少林拳谱), ebenso viele handschriftliche Aufzeichnungen von Shaolin-Mönchen und weitere Unterlagen zur Shaolin-Kampfkunst. Fast alles, was in dieser Zeit an Materialien zusammengetragen wurde, soll bis heute erhalten sein.

 Aufgrund der schlechten Bildungssituation und zur Förderung der Kultur  gründete Shi Dechan zusammen mit anderen Shaolin-Mönchen (Zhenxu 贞绪,Xingzheng 行正, Suxi 素喜,Sudian 素典  u.a.) 1941 die Shaolin-Mittelschule. Er übernahm ihre Leitung und fungierte auch als Schularzt.

Im Hintergrund zog derweil in Henan eine Hungersnot auf. Durch Missernten in den Jahren 1940/41 wurden die Nahrungsmittelreserven aufgebraucht, während die Regierung dem Volk unvermindert Getreide als Steuer abpresste. Im Winter 1942 war die Hungersnot nicht mehr übersehbar, doch effektive Maßnahmen zur Linderung der Hungersnot blieben aus. Im Februar 1943 geriet Chiang Kai-shek über die von der Hungernot berichtende chinesische Zeitung „Da  Gongbao“ in Wut und ordnete eine dreitägige Einstellung ihrer Veröffentlichung an. Der Zeitungsbericht schilderte die verzweifelte Lage der Menschen, die Wurzeln, Baumblätter, Ulmenrinde, zermörsertes Feuerholz aßen und Vogelkot aufsammelten, um ihn nach Samenkörnern zu durchsuchen, auch wurde über Fälle von Kannibalismus berichtet. Der bis 1943/44 andauernden Hungernot fielen schätzungsweise drei bis fünf Millionen Menschen zum Opfer.
In den offiziellen Chroniken des Shaolin-Tempels gibt es zu diesen Jahren, in denen der Tempel noch 2800 mu Ackerland besaß, keine Angaben, und so ist es unklar in welchem Ausmaß die Mönche des Tempels von der Hungersnot betroffen waren. Es ist jedoch  wahrscheinlich, dass aufgrund dieser allgemeinen Situation dem Wiederaufbau des Shaolin-Tempels und seiner Sangha recht enge Grenzen gesetzt waren.


1947 kam die Befreiungsarmee (解放大军) auf ihrem Zug in Richtung Süden durch Dengfeng, die einige Kilometer vom Shaolin-Tempel entfernte Kreisstadt. Shi Dechan suchte selbst einige Kampfmönche aus - unter anderen Xingfang (行方), Suxiang (素祥), Sulong (素龙) - die er beauftragte, sich der Befreiungsarmee anzuschließen. Er ermahnte sie, für das Vaterland Verdienste zu erwerben,  um dem Tempel Ehre zu machen (sic).




Kommunismus und Medizin

Nach der Gründung der Volksrepublik China (1949) wurde  Dechan Mitglied im Kreisverband für Gesundheitspflege(县卫生协会委员).
Während die kommunistische Regierung in dieser Zeit offiziell noch Religionsfreiheit proklamierte, traf doch eines der Ziele, die sie verfolgte, die Klöster mit besonderer Härte: die Enteignung der Großgrundbesitzer.
Die große Landreform war 1953 in den meisten Gegenden Chinas abgeschlossen. Viele der buddhistischen Tempel verloren einen Großteil ihres Landbesitzes und damit eine wichtige Einnahmequelle. Durch die Verarmung der Großgrundbesitzer und des Adels und aufgrund der allgemeinen Säkularisierung des Volkes blieben ebenfalls Spenden sowie Gebühren für Totenzeremonien und andere religiöse Dienstleistungen aus. Mönche und Nonnen mußten sich neue Erwerbsquellen suchen, um ihr Überleben zu sichern, was ihnen oft nicht gelang. Wenige Jahre später – Mao Zedong beschloss 1958 den „Großen Sprung nach vorn“ - herrschten in China Hungersnöte (1959 und 1960). Sie waren vornehmlich durch politische Fehlplanung entstanden, und nach konservativen (!) Schätzungen fielen ihnen ca. 25 Mio. Menschen zum Opfer. 
Gerade in dieser Zeit erwiesen sich die medizinischen Kenntnisse Shi Dechans als außerordentlich hilfreich: zum einen sicherten sie sein eigenes Überleben und gaben ihm die Möglichkeit, auch andere Mönche zu unterstützen, zum anderen half sein Wissen und Können der Bevölkerung in einer Zeit gravierender medizinischer Unterversorgung. Außerdem hatte er damit dem Vorwurf der Kommunisten, die Mönche seien nur unnütze Faulpelze und Schmarotzer, etwas entgegenzusetzen. Er sammelte Heilpflanzen in den umliegenden Bergen und verarbeitete sie zu Pillen, Elixieren, Pudern, Pasten, Einreibungsmitteln, Heiltee-Mischungen u.v.m. Viele der geheimen Shaolin-Rezepturen waren ihm von den Meistern Suguang und Zhenjun übermittelt worden. Von Shi Zhenjun z.B. das Shaolin-Pflaster „Rückkehr des Frühlings“ zur Behandlung puritider Wunden, das von Shi Dechan in über 1000 Fällen erprobt wurde, oder das „Fünf-Feigen- Pflaster“ (wu zhi gao) zur Behandlung von Osteomyelitis. Das „Shaolin-Puder der acht Unsterblichen“ des Meisters Shi Suguang für die Behandlung von durch Fallen und Schläge entstandene Verletzungen wie auch von Knochenbrüchen und Sehnenverletzungen, wurde von Dechan in ca. 100 Fällen angewandt. Das Rezept für das Elixier „Fliegender Drache raubt das Leben“ (mit Affenknochen!), von Fuyu (福裕), dem berühmten Shaolin-Abt der Song-Dynastie entwickelt und nur im Geheimen weitergegeben,  wurde von Dechan in ca. 3000 Fällen eingesetzt. Doch Meister Dechan entwickelte und erprobte – wie schon bekannt - auch seine eigenen Rezepturen, wie z.B. das „Fünf-Schätze-Elixier“ (五宝丹)  oder das „Shaolin-Pflaster zur Ausleitung der Gifte“ (少林剔毒膏) u.a. Die Wirksamkeit seiner Heilkunst war weithin bekannt und viele Menschen kamen, um sich von ihm behandeln zu lassen. 1956 schloß er sich dem Ärzteverband des Kreises Dengfeng (登封县医联会) an.

1962 kam der stellvertretende Kanzler Li Xiannian (李先念副总) zu einer Inspektion in den Shaolin-Tempel, in deren Verlauf er mit Shi Dechan diskutierte. Es heißt, dass er davon dermaßen beeindruckt war, dass er ein Transparent mit einem Lob auf die Shaolin-Kampfkunst beschrieb und es über seinem Bett aufhängte ...

1965 wurde Shi Dechan die Leitung des Shaolin-Tempels und aller in ihm anfallenden Arbeiten angetragen.
Zur Zeit der Kulturrevolution, also ab 1966,  lebte er jedoch überwiegend im Daiwang Miao (大王庙), einem kleinen Tempel unweit des Shaolin-Klosters, da das Kloster offiziell geschlossen war. Vorübergehend fand er auch Unterkunft bei Hao Shizhai (郝释斋), dem in dieser Zeit wohl wichtigsten Unterstützer des Shaolin-Klosters und seiner alten Mönche. Dechan praktizierte weiter die Shaolin-Medizin und lehrte sie seinen Schülern. Immer wieder zog er durch die Dörfer der Umgebung, um den Menschen dort mit seiner Heilkunst zu helfen. Seine Behandlungsmethode war einfach und pragmatisch, neben der Verwendung von Heilkräutern gehörten auch Qigong und andere im Shaolin-Tempel praktizierte Übungen zur Gesundheitspflege dazu.




Der japanische Freund

1976 begann in China mit dem Tod Mao Zedongs (毛泽东) und der Regierungsübernahme durch  Deng Jiaoping  (邓小平) im Folgejahr die sogenannte „Reformzeit“ (改革开放). Sie brachte auch eine Wiederbelebung der Klöster mit sich. Mönche kehrten zum Shaolin-Tempel zurück, begannen – nicht zuletzt auch zum Broterweb - wieder offiziell Kampfkunst zu unterrichten. Auch Shi Dechan zog wieder in den Tempel, wo sein Wissen und Können dringend gebraucht wurde. Der Wiederaufbau begann.

Der Shaolin-Tempels wurde 1979 offiziell wiedereröffnet. Im April des gleichen Jahres reiste der Japaner Zong Daochen (宗 道臣, jap.: Doshin So)  mit einer Gruppe von 300 Delegierten, in der sich hochrangige Vertreter der Wirtschaft befanden, nach China und besuchte den Shaolin-Tempel, wo er von Shi Dechan herzlich empfangen wurde. Dieser Besuch erregte großes Aufsehen, da aufgrund der traumatischen Erfahrungen des vorangegangenen Krieges und der unterschiedlichen „politischen Lager“ freundschaftliche Besuche zwischen Chinesen und Japanern – besonders mit einem derartigen wirtschaftlichen Potential - noch sehr selten waren. 
Zhong Daochen (1911-1980) hatte seinen eigenen Angaben zufolge Mitte der 30er Jahre von einem Shaolin-Meister die Kampfkunst des Tempels erlernt. Nach Japan zurückgekehrt, gründete er 1947 eine eigene Organisation, durch die er nicht nur die Shaolin-Kampfkunst, sondern auch die entsprechenden ethischen Wertvorstellungen in Japan verbreiten wollte. Die Japanische Union für den Faustkampf des Shaolin Tempels (日本 少林寺 拳法 联盟 / shorinji kempo) entwickelte sich sehr gut und wuchs zu einer großen, einflußreichen Organisation heran.
1978 kontaktierte Zong Daochen – mittlerweile eine in der japanischen Gesellschaft hoch angesehene Persönlichkeit - erstmals die chinesische Regierung und konfrontierte sie mit dem Wunsch, dem Shaolin-Tempel einen Besuch abzustatten bzw. eine Pilgerreise zu ihm zu unternehmen. Glücklicherweise war dies gerade zu Beginn des Kurswechsels in der chinesischen Politik, der eine vorsichtige Öffnung und Liberalisierung mit sich brachte. Ein Jahr später gab die chinesische Regierung - wenn auch nur widerstrebend - seinem Wunsch nach, und Zong Daochen durfte offiziell den Shaolin-Tempel besuchen. Für die Mönche des Shaolin-Tempels bedeutete dieser Besuch eine erhebliche gesellschaftliche Aufwertung,- nach der Kulturrevolution war dies zudem das erste Mal, dass ihnen offiziell gestattet wurde, wieder Mönchsroben zu tragen.

5. Zong Daochen und Shi Dechan

 Zong Daochen wiederholte seinen Besuch im folgenden Jahr, einige Monate danach verstarb er. Zuvor hatte er seine Tochter Zong Yougui (宗, 由贵) beauftragt, Shi Dechan wie einen Adoptivater anzusehen und den Shaolin-Tempel zu ehren. So setzte diese das Werk ihres Vaters fort, besuchte und unterstützte den Shaolin-Tempel. Noch heute pflegen der Shaolin-Tempel und die Shorinji-Kempo-Organisation eine freundschaftliche Verbindung.
 
6.  Shi Dechan begrüßt Zong Yougui



Pflichten, Ämter und Ehren

Auch mit anderen ausländischen Organisationen pflegte Shi Dechan den Kontakt, so zur taiwanesischen Vereinigung der Damo-Chan-Schule, zu Organisationen in der Schweiz, in Singapur, in Thailand, im Iran u.a. Er empfing viele Besucher und nahm sich Zeit für ihre Belange.
Ungeachtet seines Alters und der zunehmenden Schwäche seines Körpers übernahm er zum Wohl des Shaolin-Tempel eine Anzahl wichtiger offizieller Ämter:
Im November 1981 wurde Shi Dechan Vorstandsmitglied in der Buddhistischen Vereinigung von China (中国佛教协会). Im Frühjahr 1982 gründete er ein Team für die Sammlung und den Vergleich aller Techniken der Shaolin Kampfkunst (少林武术整理组) und übernahm dessen Leitung. Im selben Jahr wurde er Mitglied des ständigen Komitees der Politischen Fakultativkonferenz des Chinesischen Volkes in Dengfeng (登封政协) und am Ende des Jahres Vizepräsident der Buddhistischen Vereinigung der Provinz Henan (河南省佛教协会). 1984 wählte man ihn zum Präsidenten der Buddhistischen Vereinigung des Stadtbezirks Zhengzhou der Provinz Henan (郑州市佛协会).
Nachdem der Shaolin-Tempel 300 Jahre lang keinen geweihten Abt gehabt hatte, erhielt 1986 der hochbetagte Mönch Shi Xingzheng - wie Dechan eine der wenigen herausragenden Persönlichkeiten des Shaolin-Tempels jener Zeit - die offizielle Weihe zum 29. Abt des Shaolin-Tempels, Shi Dechan wurde zum Ehrenabt ernannt. Leider verstarb Shi Xingzheng schon ein knappes Jahr später, ohne seine Nachfolge eindeutig geregelt zu haben, woraufhin es zu einigen Disharmonien im Tempel kam.
1987 wurde Shi Dechan erneut Vizepräsident der Buddhistischen Vereinigung der Provinz Henan.


7. Shi Xingci, Shi Dechan 








  




  

 Die letzten Jahre

Ab 1985 verschlechterte sich der gesundheitlicher Zustand des Meisters zunehmend. Schon seit langem litt er unter einer schmerzhaften Erkankung beider Knie, doch nun erfasste langam eine Lähmung seine unteren Gliedmaßen. Durch die starke Einbuße der Beweglichkeit und zunehmende Schwäche wurde er mehr und mehr an Rollstuhl und Bett gebunden und pflegebedürftig. Dennoch gelang es - aufgrund der aufopferungsvollen Pflege seiner Schüler und auch staatlicher Fürsorge - seinen Zustand über viele Jahre hinweg leidlich stabil zu halten. Im November 1992 mußte er jedoch in das Volkskrankenhaus der Kreisstadt gebracht werden. Nach kurzer Zeit kam er wieder in den Tempel, wo er in den letzten Wochen seines Lebens vornehmlich von Meister Yongji (永继) betreut wurde. Er verstarb am 26. Januar 1993 frühmorgens in seinem kleinen Zimmer.

8. Shi Dechan, Shi Yongwu





 
                                  







Shi Dechan hatte sein ganzes Leben dem Buddhismus, der Kampfkunst und der buddhistischen Medizin gewidmet. Schon in seinen frühen Jahren hatte er eingehend  die Surangama-Sutra und die "Plattform-Sutra des sechsten Patriarchen" studiert und war zu der Einsicht gekommen, daß die Lehre des Buddha sich nicht außerhalb der Menschenwelt befindet resp. verwirklicht, sondern mittendrin und daß wer ein guter Mönch werden will, zuerst ein guter Mensch sein muß. Seinen Schülern lehrte er, unablässig ihre Vervollkommnung in den drei wesentlichen Disziplinen anzustreben: der Befolgung der Mönchsregeln, der Meditation und der Entwicklung von Weisheit (戒 定 慧). Ein wesentliches Anliegen war ihm auch, die Philosophie und Praxis der Einheit von Chan und Faustkampf (禅拳合一) zu stärken und zu verbreiten. Auf dieser Basis bildete er eine große Anzahl von Schülern in buddhistischer Lehre, Shaolin-Kampfkunst und Shaolin-Medizin aus. 
Unter seinen direkten Schülern, denen er das Dharma übertrug, sind die Chanmeister Xingming (行明) und der früh verstorbene Xingxiang (行香) wie auch der jetzige „Küchenchef“ des Shaolin-Tempels, Dharmameister Xingci (行慈) zu nennen. Ein herausragender Schüler der Medizin Shi Dechans war Zhang Qinghe (張慶賀), der später einer der Meister von Shi Dejian (德健) wurde und mittlerweile leider schon verstorben ist. Bis heute preist Shi Dejian – nun selbst ein international bekannter und dabei sehr medienwirksamer Experte für Chan, Kampfkunst und Medizin - Shi Dechan als den Meister mit dem tiefsten Verständnis für Shaolin-Medizin. Es ist jedoch ein Schüler aus dem Laienstand, der heute als einer der Hauptrepräsentanten von Dechans Shaolin-Medizin gilt: Chen Shichao (世朝), ein bis heute praktizierender Arzt der Traditionellen Chinesischen Medizin, der unweit des Shaolin-Tempels in Sanjiadian eine kleine Praxis unterhält. "Doktor Chen" lernte von Shi Dechan auch Kungfu und diverse traditionelle Gesundheitsübungen, wie das "Baduanjin" (八段锦), das er heute noch ausgewählten kleinen Gruppen unterrichtet.
 
Unter Shi Dechans Schülern der darauffolgenden Generation, den sogenannten "Enkelschülern" (徒孙) sind die Meister Yongcheng (永成), Yongchuan (永传) und Yongwu (永悟) zu nennen. Shi Yongchuan absolvierte ein Universitätsstudium (Buddhismus) und leitet seit 2001 den Shaolin-Tempel Deutschland in Berlin, während Shi Yongwu, eigentlich mehr ein Schüler von Shi Xingci, als Abt eines Klosters und in verschiedenen weiteren Ämtern seiner Mönchslaufbahn in China nachgeht. 


9. Shi Dechans Stupa im Pagodenwald





Fußnoten
*1 Während die meisten Biografien Dechans eine Kindheit in Armut schildern, existieren auch Angaben, denen zufolge Dechan keineswegs in Armut und Not aufwuchs, sondern in guten Verhältnissen. .
*2 Beide Zitate aus dem Artikel „Gut für den Einzelnen, gut fürs Vaterland“ von Tiziano Terzani in „Der Spiegel“ 26/1983, aus dem Internet: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-14019055.html, abgerufen am 4.5.2010

Fotografien

*1. Shi Dechan 释德禅
*2. Shi Dechan, Shi Suxi, Shi Xingci, Shi Yongwu 释德禅,释素喜,释行慈,释永悟
*3. Shi Dechan mit Shi Yongchuan 释德禅,释永传
*4. Shi Dechan und (?)  释德禅
*5. Shi Dechan, Zong Daochen 释德禅,   宗 道臣
*6. Shi Dechan, Zong Yougui 释德禅,宗由贵
*7. Shi Dechan, Shi Xingci 释德禅,释行慈
*8. Shi Dechan, Shi Yongwu 释德禅,释永悟
*9 . Shi Dechans Stupa 释德禅塔

Fotos 1,2, 7,8 copyright by zenkunedo / Shi Yongwu
download von http://www.zenkunedo.com/2zz.htm
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Shi Yongwu (谢谢!)
Foto 3 copyright by Shi Yongchuan
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Shi Yongchuan
Foto 4 copyright by Oldman
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Oldman
Foto 6 copyright unknown, download von kongfusupply.nl
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von kungfusupply.nl
Foto 9 copyright yss


Für ihr Vertrauen und ihre immer wieder geduldige Beantwortung meiner Fragen möchte ich besonders Shi Yongchuan und Shi Xingci danken !

Die Inhalte dieses Artikels wurden von mir nach bestem Wissen und Gewissen auf ihren Wahrheitsgehalt hin geprüft und erstellt. Zuverlässige Informationen zu erhalten und zu prüfen, erwies sich als sehr schwer; deshalb mussten zahlreiche nachträgliche Korrekturen erfolgen. Quellenangaben sind auf Anfrage hin erhältlich.
21./22.05.2010 - yss
Letzte Änderung: 02.12.2014
Urheberrechtlich geschützt


Keine Kommentare: