Die Halle der vier großen Himmelskönige 
(四大天王殿  si da tianwang dian)

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Diese Halle, meist in Kurzform „Halle der Himmelskönige“ (天王殿 tianwang dian) genannt,  trägt entsprechend ihrer Bezeichnung im Sanskrit auch den Namen „Devaraja-Halle“.
Ursprünglich in der Yuan-Dynastie erbaut, wurde sie mehrmals in der Ming- und der Qing-Dynastie renoviert. Sie war seinerzeit das „Bergtor“ (山门 shanmen), d.h. das Eingangstor zum Tempel, und beherbergte im vorderen Bereich die Statue des Maitreya Buddha (彌勒佛 mile fo), im hinteren, dem Norden zugewandten Bereich jene des Skanda (韦驮菩萨 weituo pusa). 1735 erbaute man im Zuge einer Renovierung des Tempels, ihr vorgelagert, eine neue Eingangshalle, in die die Statuen des Maitreya Buddha und des Skanda tranferiert wurden (siehe: Der Vorplatz und das Haupttor). Die alte Eingangshalle wurde in „Halle der vier Himmelskönige“ umbenannt und erhielt dementsprechend die Statuen der vier Himmelskönige sowie jene der zwei Torwächter. 1928 ließ im Zuge der seinerzeitigen Bürgerkriegswirren der Kriegsherr Shi Yousan den Shaolin-Tempel in Feuer legen, die Halle der vier Himmelskönige brannte bis auf wenige Überreste nieder. In der Zeit von 1982 bis 1983 wurde sie wieder aufgebaut, wobei man versuchte, sie weitgehend dem alten Vorbild nachzugestalten.

(2) Die Halle der vier Himmelskönige (vor 1928)





Kommt man vom Eingang her, präsentiert sich die Halle als eine Torhalle mit großem zentralem Durchgang, der mit einem massiven Holztor verschlossen wird. Zu Seiten des Durchgangs befinden sich vor dem Holztor zwei zur Mitte hin offene Räume mit den Statuen der Wächter Buddhas, hinter dem Tor zwei zur Mitte und zur Nordseite hin offene Räume mit den Figuren der vier Himmelskönige. Das steinerne Podest, das der Halle vorgelagert ist, stammt noch aus der Zeit vor dem Brand von 1928. Links und rechts der Torhalle befinden sich zwei Seiteneingänge, die mit denen des Bergtors korrespondieren.


Die Wächter „Heng“ und „Ha“ 

(3) Heng!
(4) Ha!





















Im zentralen Durchgangsbereich der Halle stehen in Überlebensgröße die Statuen zweier Wächter und Beschützer des Buddha und seiner Lehre (skr.: vajra, chin.: 金刚 jingang oder 金刚力士 jingang lishi). In der „Prajna Paramita Sutra des wohlwollenden Königs, der das Land beschützt“ (仁王护国般若波罗蜜经 renwang huguo bore boluomi jing) als eifrige Protektoren der buddhistischen Lehre (Dharma) beschrieben, wurde ihnen in vielen buddhistischen Tempeln die Aufgabe als Torwächter zuteil.
Dharma-Beschützer findet sich schon in der Frühzeit der buddhistischen Ikonographie. Ein Einfluss der griechisch-hellenistischen Kunst auf ihre Darstellung ist offensichtlich und läßt sich, ausgehend von den griechischen Statuen des Herakles, über die griechisch-baktrische Kunst und die „Vajrapani“-Darstellungen in Skulpturen und Reliefs von Gandhara bis hin zu den Skulpturen von Dharma-Beschützern in China und in Japan verfolgen.

In ihrer ursprünglichen Auffassung sind die Dharma-Beschützer mit muskulösen Körpern und in furchterregenden Posen wiedergegeben. Die Oberkörper sind nahezu unbekleidet, die Gesichter grobschlächtig und grimmig. Ihr Haupthaar ist auf dem Scheitel zu einem Knoten zusammengebunden. Als Attribut ist den Wächtern jeweils eine Art  Donnerkeil resp. „Vajra“ (金刚杵 jingang chu) beigefügt.

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Im Westen (vom Tempeleingang gesehen links) steht Gunyapati (密迹金刚 mìji jingang). Er zählt zu den Devas,- in der buddhistischen Mythologie eine niedere Klasse vergänglicher Gottheiten-, und weist einen roten Körper auf. Seine Rechte ruht auf dem Donnerkeil, die Linke ist drohend erhoben. Mit geöffnetem Mund formt er die erste Silbe des Sanskrit-Alphabets, das „a“ ( sanskr.: अ, chin.: 哈 ha), weshalb er im chinesischen Volksmund „Ha“  genannt wird.
Im Osten (rechts) befindet sich die Statue des Narayana (那罗延金刚 naluoyan jingang), sein Körper ist von blauer Farbe.  In seiner Rechten hält er den „Vajra“ , seine Linke greift mit weit gespreizten Fingern nach vorne. Ihm ist die letzte Silbe des Sanskrit-Alphabets, „om“ (sanskr.: ह , chin.: 哼 heng oder hum) zugeordnet, ihr entsprechend lautet sein volkstümlicher Name in China „Heng“ .  Zusammengefasst bilden beide Silben die heilige Silbe „Aum“ oder "Ahum" (sanskr. ॐ), die – entsprechend dem „Alpha und Omega“ im Christentum – Anfang und Ende, Entstehen und Vergehen des Lebens und letztendlich das Absolute symbolisieren.

In einer Variante treten die beiden Wächter Heng und Ha auch als „Generäle Heng und Ha“ (哼哈二将 heng ha er jiang) auf. Dies ist auf die in der Ming-Dynastie erschienene Novelle „Die Einsetzung der Götter“  (封神演义 fengsheng yanyi) des Autors Xu Zhonglin (许仲琳) zurückzuführen, durch deren Schilderung als mutige Helden beide Figuren Bekanntheit und Beliebtheit im Volk erlangten. Der „Heng“-General Heng heisst dort Zheng Lun  (郑伦),- mit dem weißen Atem, den er aus seiner Nase blasen lässt, kann er seine Feinde töten. Der „Ha“-General heißt Chen Qi (陈奇),- er vernichtet seine Feinde mit dem gelben Atem seines Mundes. Als Generäle sind beide in entsprechend prunkvolles Rüstzeug gekleidet.



Die vier Himmelskönige (四大天王 si da tianwang)

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Die vier Himmelskönige, im Sanskrit „Lokapala“ (Beschützer des Universums) oder „Caturmahārāja“ (vier Könige) genannt,  wurden vom Buddhismus aus der brahmanischen/hinduistischen Götterwelt übernommen. Im buddhistischen Pantheon zählen sie zu den Devas und sind die Herrscher des Cāturmahārājikakāyika-Himmels, der an den Hängen des heiligen Weltenberges Meru  (须弥山 xumishan) liegt und der Welt der Begierde (sanskr.: Kāmadhātu, chin.: 欲界 yu jie) zugerechnet wird. 
Die Himmelskönige werden als Beschützer der buddhistischen Lehre und Hüter der Welt verehrt. Entsprechend der im 4. Jahrhundert von dem Pilger Faxian nach China gebrachten Dirghagama-Sutra  (长阿含经 chang ahan jing)  sind sie verantwortlich für die Bewachung der vier  mythischen Kontinente, die in den kardinalen Himmelsrichtungen den Berg Meru umgeben, wobei ihnen jeweils ein Kontinent zugeteilt ist. Vereinfacht werden sie deshalb als Wächter der vier Himmelsrichtungen bezeichnet. Zudem regiert jeder von ihnen über eine Gruppe übernatürlicher Wesen bzw. Halbgötter, vor deren negativen Eigenschaften er die Menschen bewahrt und deren positive Eigenschaften dem Schutz des Buddha und des Buddha-Dharma dienen.  Desweiteren ist jedem Lokapala eine Farbe, ein Attribut u.v.m. zugeordnet.

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Einer anderen, sich über nur eine Schriftrolle erstreckenden Sutra zufolge dienen die vier Himmelskönige Shakra (帝釋天  dishitian oder 釋提桓因  shiti huanyin), dem Herrscher über die Devas des Trayastrimsha-Himmels, des höchsten mit den Menschen noch in einer Verbindung stehenden Himmels, der auf der Spitze des Meru-Berges liegt. Entsprechend dieser "Sutra der vier Himmelskönige" (四天王经 si tianwang  jing)  mahnt der Shakyamuni-Buddha seine Jünger in einer Rede, die sechs monatlichen Tage des Fastens und der Abstinenz einzuhalten, da jeweils am 8.,14. und 15. Tag eines Monats  nach dem chinesischen Mondkalender die vier Könige erkunden, wie es um die Tugend und Moral unter den Menschen steht, wozu sie Kundschafter aussenden oder sich selbst zu den Menschen begeben. Anschliessend erstatten sie Shakra und der Versammlung von Devas des Trayastrimsa-Himmels Bericht darüber und können gegebenenfalls die Lebenszeiten der Menschen entsprechend ihres moralischen Verhaltens verlängern oder verkürzen. -- Es ist nicht auszuschließen , daß diese Vorstellung chinesischen Ursprungs ist und erst später in die Sutra eingefügt wurde.        

In China sind die vier Himmelskönige ca. seit dem 4. Jahrhundert bekannt. Sie werden dort auch kollektiv als „Moderater Wind, passender Regen“ (风调雨顺 feng tiao yu shun) bezeichnet,  mit der Bedeutung von gutem Klima und guter Energie. Die Einführung ihrer besonderen Verehrung als Beschützer der Tempel und die Aufstellung ihrer Statuen in einer eigenen Tempelhalle wird auf eine Legende um den buddhistischen Mönch Amoghavajra (不空 bukong) zurückgeführt. Amoghavajra lebte in der Zeit von 705 bis 774 und gilt als einer der wichtigsten Vertreter der Yogacara-Schule in China. Er war einer der politisch einflußreichsten Mönche in der Geschichte des chinesischen Buddhismus überhaupt, dies sicherlich nicht zuletzt aufgrund der magischen Praktiken, die er ausübte. Besonders wurde ihm die Fähigkeit, Regen zu machen und Stürme zur Ruhe zu bringen nachgesagt. Der Legende zufolge sollen ihm in der belagerten Stadt Xianfu, als er in einem Tempel zum Schutz der Stadt Dharanis rezitierte, die vier Himmelskönige erschienen sein, durch deren Hilfe die Belagerung beendet werden konnte.  Zum Dank für ihr hilfreiches Eingreifen wurde die Verehrung der Himmelskönige implementiert und die Aufstellung ihrer Statuen in den Tempeln und Klöstern angeordnet.

Im Shaolin-Tempel stehen die Statuen der Himmelskönige jeweils zu zweit in zwei halboffenen Räumen an der Nordseite der nach ihnen benannten Halle, links und rechts des zentralen Durchgangs. Zur Betonung ihrer Macht und Stärke wurden auch sie in Überlebensgröße modelliert und in martialischen Posen wiedergegeben, zudem dient jedem von ihnen ein kleines menschliches Wesen als Fußstütze. Die vier königlichen Wächter sind in prachtvolle Rüstungen gekleidet und tragen ausladende, reich verzierte Kronen auf ihren Häuptern.

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Vaishravana, der Hüter des Nordens
Vaishravana, der in dem Raum zur Linken des Tores steht, ist der wichtigste der vier Himmelskönige. In China wird er „der Alles Hörende“ (多闻 duo wen) genannt und oft mit Kuvera, einer buddhistischen Variante des hinduistischen Gottes der Reichtümer, assoziiert.  Er residiert im Kristallpalast des nördlichen Himmels, wacht über den nördlich des Meru-Berges gelegenen Kontinent Beiju Luzhou (北俱芦洲) und befiehlt ein Heer von Yakshas (夜叉 yèchā). Als Yakshas wird im Hinduismus, Buddhismus und Jainismus eine große Klasse von Naturgeistern bezeichnet.  Der Körper des Vaishravana ist von gelb-grüner Farbe, die im Shaolin-Tempel jedoch mehr zu einem leichten Orangeton hin tendiert. In seiner Linken hält er eine zusammengerollte Fahne, das Siegesbanner der buddhistischen Lehre, in seiner Rechten eine Edelsteine speiende Manguste, die den Schutz des Wohlstands symbolisiert.    

Virudhaka, der Hüter des Südens
Neben Vaishravana ist die Statue des Virudhaka aufgestellt, dessen chinesischer Name „ der Vergrößernde“ (增长 zeng zhang) lautet. Er ist der Patron des Wachstums und wohnt im Glaspalast des südlichen Himmels. Als König der  Kumbhandas (鳩槃荼 jiu pan tu), einer Spezies von koboldhaften Dämonen mit einem Bauch in der Form von Kürbisflaschen, wacht er über den Kontinent des Südens, Nanzan Buzhou (南瞻部洲). Sein Attribut ist im Allgemeinen das Schwert, im Shaolin-Tempel jedoch hält er in seiner Linken eine Pagode. Sein Körper ist von blauer Farbe.

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Dhritarashtra, der Hüter des Ostens
Der Hüter des Ostens trägt den chinesischen Namen  „Erhalter des Landes“  (持国 chi guo) und ist im Shaolin-Tempel von weißer Hautfarbe. In seiner Linken hält er eine Laute,- in China meist als vierseitige Pipa interpretiert -, deren Klang die Gedanken der Menschen reinigen soll.  Seine Residenz ist der Goldene Palast im östlichen Himmel. Dhritarashtra ist der König der Gandharvas (乾闥婆 qiantapo), den fliegenden Musikanten der himmlischen Sphären. Er ist für die Bewachung des östlich des Berges Meru gelegenen Kontinents Dongsheng Shenzhou (东胜神州) zuständig.

Virupaksha, der Hüter des Westens
Virupaksha, sein chinesischer Name ist „der Weitsichtige“ (广目 guang mu), residiert im Silberpalast des westlichen Himmels und ist der König der Nagas (chin.: 那伽 naja), mythischen Wesen, die sowohl in der Gestalt von Menschen als auch in der von Schlangen erscheinen können. Seine Statue im Shaolin-Tempel weist eine rote Hautfarbe auf. In seiner Linken hält er den Kopf einer Schlange, die sich um seinen Arm windet. Oft trägt er in seiner Rechten das buddhistische Wunschjuwel, das er der Schlange vorenthält,- im Shaolin-Tempel wurde dieses jedoch gegen ein Schwert eingetauscht. Er steht neben dem Wächter des Ostens in dem Raum rechts des großen Mitteltores. In seiner Verantwortung steht die Bewachung des westlichen Kontinents, Xiniu Hezhou (西牛贺洲).


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Die Halle der vier Himmelskönige, die Mahavira- bzw. Buddha-Halle und die Sutraspeicher- bzw. Dharma-Halle werden zusammen als die „drei großen Hallen“ bezeichnet. Sie bilden das grundlegende „Hallen-Ensemble“ eines buddhistischen Tempels und finden sich schon in den ersten chinesischen Kopien indischer Klosterpläne. In den buddhistischen Tempeln Chinas wurde die bauliche Anordnung der wesentlichen Hallen von den chinesischen Kaiserpalästen übernommen und die „Drei großen Hallen“ wurden hintereinander entlang der Zentralachse des Tempels platziert.
Hat man die Halle der grimmigen vier Himmelskönige durchschritten, blickt man über einen großen Hof hinweg auf die imposante Mahavira-Halle, zu der man wiederum über einige Treppenstufen hochsteigt.


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Fotos 5, 6, 9 und 11: copyright Songshan Shaolinsi - Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Shi Yankai
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26.06.2010 - yss
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