Shi Zhenjun   释贞俊  



„In Bewegung ist er wie eine Welle und in Ruhe wie ein Gebirge, im Aufkommen wie ein Affe und im Absinken wie eine Elster. Im Sich-Aufstellen ist er wie ein Hahn und im Stehen-Bleiben wie eine Kiefer, mit der Spannkraft wie ein Bogen und sich drehend wie ein Rad. Schnell ist er wie der Wind und kontrolliert wie ein Adler, leicht wie ein Blatt und schwer wie Eisen. „


Von den herausragenden Meistern des Shaolin-Tempels sind filmische Aufzeichnungen ihres Kungfu vor der Mitte des letzten Jahrhunderts eine absolute Rarität. So bleibt nur diese Umschreibung um eine Vorstellung von den Besonderheiten im Stil des Kungfu von Meister Zhenjun zu erhalten, dessen Lebenszeit sich über das Ende der Qing-Dynastie und den Beginn der chinesischen Republik erstreckte. Heute haben wir glücklicherweise die Mittel der filmischen Dokumentation zur Verfügung, um das Kungfu der Meister – sofern sie bereit sind, es zu zeigen – festzuhalten und eigenem Sehen und Beurteilen zugängig zu machen.




Zhenjun , mit dem weltlichem Familiennamen Li (李), wurde 1865 in dem Dorf Yuwan (玉湾村), das zum Kreis Yanshi (偃师县) chinesischen Provinz Henan zählt, geboren.  1872 gab es in Yanshi eine große Dürre, die zu einer hohen Verschuldung der Gemeinden führte und den Menschen kaum genug zum Überleben ließ. Seine Mutter schickte ihn schweren Herzens aus dem Haus und brachte ihn zum „Kloster der Steinsenke“ (石沟寺shigou si), um ihn dort als Schüler in der Obhut des Dharmameisters Chúnyang (淳阳法师) zu lassen. Dieser gab dem kleinen Novizen den Namen Zhenjun. 1879 kam Zhenjun zum Shaolin-Kloster und bat den Großmeister Jiran (寂然, 号晓空) als sein Schüler Kungfu lernen zu dürfen. Er übte fleißig die Faustformen Dahong Quan  (大洪拳), Tongbi Quan (通臂拳), Pao Quan (炮拳), Xinyiba (心意把) und zahlreiche Waffenformen wie den Bronze-Hammer (铜锤 tong chui), die Mondsichel-Schaufel (月牙铲 yueya chan) den Doppelhaken (双钩 shuang gou), den Frühling-Herbst-Säbel (春秋大刀 chun qiu dadao), die Neungliedrige Peitsche (九节鞭 jiu jie bian), die 3 Meter lange Schnurpeitsche (绳鞭 sheng bian) u.v.m. Zudem meisterte er Qigong (气功), die „Kultivierung des Qi“ und Qinggong (轻功), die „Kultivierung der Leichtigkeit“. Sein Kungfu wurde so hervorragend, daß er  Bergbäche hochfliegen, Felswände hochlaufen und sogar aus dem Stand bis zur Zimmerdecke hochspringen konnte. Die Leute nannten ihn  „Feimaotui“ (飞毛腿 ; wörtlich: fliegendes Haar Bein, im übertragenen Sinn: sprinten, jagen).  Würde er heute leben, wäre er vielleicht als Traceur eines „Shaolin parkour“ oder als „Shaolin free-runner“ bekannt …


Shi Dechan erzählte: „Einen Monat vor seinem Tod führte Zhenjun vor der Halle des Abtes die Schnurpeitsche vor. Was für Bewegungen! Was für ein „Die goldene Seidenraupe spinnt Seide“, „Die Schlange züngelt“, „Donner, Blitz und Feuer“! Den Zuschauern wurde ganz schwindelig vor Augen; sie klatschten in die Hände und jubelten. Noch während die Schar der Mönche ihm applaudierte,  hörte man wie aus einem Mund ein „Aaaaah“: Zhenjun war bis oben an den Dachfirst der Abthalle gesprungen. Die Mönche und Pilger waren nicht wenig erstaunt und riefen  einstimmig : « Göttliche Kunst, göttliche Kunst ! ».“ 


Nicht nur Shi Zhenjuns Fertigkeiten in der Kampfkunst waren herausragend, sondern auch seine hohe Ethik; er belehrte die Mönche und Anhänger: „Jeder Shaolin-Jünger muss ernsthaft die Regeln der Kampfkunst beachten und schützen. Es ist verboten, die Schwachen geschickt zu betrügen, Schaden anzurichten, die Menschen zu behindern und zu berauben. Jeder, der diesen Vorgaben zuwider handelt, wird mit aller Härte bestraft und ausgeschlossen“.
Er schrieb folgenden Text: „Im allgemeinen betrachte ich die alten Menschen als meine Eltern, die Gleichaltrigen als meine Geschwister, die Jungen als meine Kinder. Warum sollte ich sie je verletzen?“


Sein Unterricht war sehr streng, doch liebte Zhenjun seine Schüler als wären sie seine Söhne. Bei allen Ordensangehörigen genoss er großen Respekt und Wertschätzung. Gab es im Kloster Streitigkeiten, Zank oder kleine Kämpfe, mußte man ihn nur sehen oder ihn vor Unzufriedenheit schnauben hören, dann verschwand alle Wut wie sich auflösende Wolken und  die Kontrahenten gingen eilig auseinander. Alle jene Anhänger innerhalb- und außerhalb des Klosters, die von ihm Kungfu lernten, nannten ihn deshalb den „ Vorzüglichsten Meister auf dem Altar des Kungfu“.


Zu Beginn der zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts gab es vier, fünf „kleine Mönche“ (小和尚) im Tempel. „Kleine Mönche“ nannte man die Kinder, die von ihren Eltern - meist aus sozialer Not - in den Tempel gebracht wurden. Sie genossen als die „jungen Triebe“ des alten Shaolin-Tempelbaumes die besondere Beachtung und Fürsorge der älteren Mönche. Um diese Sprößlinge aufzuziehen und den damit einhergehenden Erfordernissen gerecht zu werden, wurden spezielle Meister von außerhalb in den Tempel gebeten, die sie unterrichten sollten. Einer dieser „kleinen Mönche“ war Diao Junqing ( 刁俊卿),  der schon im Alter von 4 Jahren in den Shaolin-Tempel gekommmen war und den buddhistischen Namen Xingshu (行書) erhalten hatte. Wie es dazu kam, daß er einige Jahre später von Zhenjun als Schüler angenommen wurde, ist in einer von Diao Shanduo (刁山多,Sohn des später in den Laienstand zurückgekehrten Diao Junqing) überlieferten Geschichte festgehalten:


Jener von außen in den Tempel gebetene Lehrer für die Kinder unterrichtete gleichermaßen Kampfkunst und Schrifttum. Eines Tages wollte er ausgehen und trug zuvor den „kleinen Mönchen“ auf, eine Hausaufgabe auszuführen: „In drei Tagen kehre ich zurück, jeder von euch muß bis dahin die Lankavatara-Sutra auswendig lernen.“  Nach zwei Tagen schon kam der Lehrer zurück und traf auf die Kinder, die weder Kungfu übten, noch die Sutra lernten, sondern gerade im Freien herumalberten und spielten.  Augenblicklich fing der Lehrer an, jedem der Kinder mit seinem Tabaksbeutel auf den Kopf zu schlagen, auf daß es eine „Glühbirne“ (‘电灯泡’ diandengpao) bekomme. Zhenjun, der das Ganze durch den Vorhang seines Zimmers gesehen hatte, kam heraus, hielt den Lehrer an und schaute sich das Ergebnis dessen, was geschehen war, an.
Er fragte: „Könnt ihr die Lankavatara-Sutra auswendig?“
Jeder der kleinen Mönche senkte den Kopf und schwieg, nur Xingshu sagte: „Ich kann sie auswendig!“ Zhenjun ließ ihn die Sutra aufsagen, und der Junge rezitierte sie Wort für Wort ohne einen Fehler, sodaß der Lehrer in eine peinliche Lage geriet und ganz verlegen wurde. Zhenjun sagte nur: „Dieses Kind kommt mit mir!“ Von da an folgte Xingshu Meister Zhenjun, er war damals 7 oder 8 Jahre alt.



Mit Xingshu und vier weiteren Novizen gab Shi Zhenjun 1936 anläßlich des Besuchs von General Qiang Kai-shek (蔣介石 Jiang Jieshi) im Shaolin-Tempel eine Vorführung von Shaolin-Kungfu. Während heute politische und andere Prominenz  im Shaolin-Tempel ein und aus geht, war in jenen Jahren des Bürgerkriegs das Interesse und der Besuch eines derart hochrangigen Politikers und Militärs eher eine Besonderheit.




Meister Zhenjun kannte sich nicht nur mit der Kampfkunst aus, sondern auch mit Tuina (Massage), Akupunktur und Moxa, Dianxue (Manipulation der Vitalpunkte des Körpers), Pulsdiagnose und dem Zusammenstellen von Rezepturen. Oftmals versorgte er in seinem kleinen Behandlungsraum seine Ordensbrüder, wenn sie sich beim Kungfu-Training verletzt hatten. Er verfügte über zahlreiche Geheimrezepte und stellte auch auf eigene Kosten Medikamente her. Vom Kloster aus fuhr er in alle Himmelrichtungen zu den Kranken nach Hause, wenn sie seine Hilfe benötigten. Es heißt, er habe niemals von ihnen Geschenke angenommen. Zu den von ihm verwendeten Rezepturen, die er bei Verletzungen durch Fall oder Schläge benutzte, zählte das schon von Fuyu  (福裕), dem Abt des Shaolin-Tempels zur Zeit der Song-Dynastie entwickelte „Shaolin-Geist-Pflaster“ (少林神膏  shaolin shen gao). Es wurde von Zhenjun in über 1000 Fällen angewandt und war in einem Radius von 50 km um das Kloster herum bekannt.


Als ein Kenner der drei wesentlichen Elemente der Shaolin-Kultur – Chan-Buddhismus, Kungfu und Medizin – und als einer der angesehensten und höchstgeachteten Mönche übernahm Shi Zhenjun mehr als 30 Jahre lang die Verantwortung für die Angelegenheiten des Tempels. 1939 starb er im Alter von 74 Jahren.


Neben Xingshu (行書) und Dechan (徳禅) zählten auch Sujing (素静), Suyin (素印), Suguang (素光), Sushuai (素帅) und Suzhao (素肇) sowie Zhang Guangjun (張廣俊)  zu Shi Zhenjuns Schülern. 
Shi Suguang, 1891 geboren, kam im Alter von 16 Jahren ins Kloster  zu Zhenjun und galt als ein außerordentlich begabter Schüler. Er verstarb 1917 - also schon im Alter von 26 Jahren - an einer Lungentzündung.

In besonderem Maß trauerte Shi Dechan um Shi Zhenjun. Nachdem Dechan Shi Suguang, den Meister, zu dem er als Kind gebracht wurde, durch dessen frühen Tod verloren hatte, wurde Zhenjun sein Tonsurmeister. Sein Leben lang war Dechan voller Verehrung und Bewunderung für den „Großvater-Meister“. In seiner Trauer schrieb er: „Der Ahnherr kam aus der Armut und einem Berg an Tränen.  Überirdische Weisheit öffnete ihm das Verständnis für die schwierigen Sutren. Sein tägliches Brot war hart wie 100 Tragestangen und bitter wie die Huanglian-Pflanze. Sein hervorragendes Kungfu ist unter Tausenden führend. Unzähligen Mönchen verhalf er mit seiner Medizin zur Genesung. Sein Können wird zutiefst verehrt. Seine Nachkommen versprechen, an seinem Vorbild festzuhalten …“


Shi Dechan leitete die große Zeremonie, mit der Shi Zhenjun auf einem kleinen Friedhof  ca. 1,5 km vom Shaolin-Tempel entfernt begraben wurde.


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Foto: Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Shi Yongchuan

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25.11.2010 - yss 
Letzte Änderung: 2.12.2010
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