Die Halle der sechs Patriarchen (六祖殿)
Shaolin Guanyin (1) |
Im Shaolin-Tempel liegt westlich der Mahavira-Halle die kleine "Halle der sechs Patriarchen" als Pendant zu der im östlichen Abschnitt gelegenen Jinnaluo-Halle. Beide Hallen dienen der Verehrung: erstere der Verehrung der sechs "Patriarchen" (六祖) der Chan-Schule, zweitere der Verehrung des Schutzheiligen des Klosters, des Kimnara-Königs (紧那罗王).
Der Homepage des Shaolin-Tempels zufolge wurde nach Angaben auf historischen Stelen des Klosters die ursprüngliche „Halle der sechs Patriarchen“ in der Ming-Dynastie (1368 – 1644) erbaut. Nachforschungen der „Chinesischen Gesellschaft für Gebäude“ ergaben, dass Inskriptionen in einem Stein, der vor der Halle gefunden wurde, auf eine Entstehung der Halle in der Taihe-Ära der Jin-Dynastie (1206) hinweisen.
Die Halle der sechs Patriarchen, ca. 1920 (2) |
Halle der sechs Patriarchen, Wandgemälde, ca. 1920 (4) |
Halle der sechs Patriarchen, Wandgemälde, ca. 1920 (3) |
Als 1928 der Kriegsherr Shi Yousan das Shaolin-Kloster niederbrannte, wurde die Halle mitsamt ihrer alten Wandmalereien zerstört. In der Halle befand sich ein Statuen-Ensemble aus weißem Marmor, das die Szene „Sechs Patriarchen huldigen dem Bodhisattva Guanyin“ zeigte, es konnte ebenfalls nicht gerettet werden.1982/83 wurde die „Halle der sechs Patriarchen“ nach alten Vorlagen wieder aufgebaut.
Statuen in der Halle der sechs Patriarchen, Shaolin-Tempel, ca. 1920 (5) |
Die sechs Patriarchen der Chan-Schule bilden den chinesischen Anteil einer Transmissionslinie, die bis zu dem historischen Buddha zurückgeführt wird. Gemäß der Chan-Schule ist der Wesenskern der Lehre des Buddha nicht in den Sutren und anderen Schriften enthalten, sondern wurde „von Geist zu Geist“ übertragen. Diese Übertragung soll, ausgehend von dem historischen Buddha selbst, über eine Reihe indischer Patriarchen an den Mönch Bodhidharma (菩提达摩) erfolgt sein. Durch ihn allein sei die sogenannte „Übermittlung des Geistsiegels“ (传心印) nach China gelangt, wo sie über die chinesischen Mönche Huike (慧可), Sengcan (僧璨), Daoxin (道信) und Hongren (弘忍) fortgesetzt wurde und letztendlich bei Huineng (慧能), der heute als sechster Patriarch der Chan-Schule verehrt wird, ankam.
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Die älteste bekannte schriftliche Fixierung einer Transmissionslinie in der Entstehungszeit der Chan-Schule findet sich in einem 689 verfassten Epitaph für den Mönch Faru, einen Schüler Hongrens, der, nachdem er drei Jahre im Shaolin-Kloster unterrichtet hatte, dort gestorben war. In diesem Epitaph wird als Nachfolger Hongrens Faru genannt. Es folgten weitere Aufzeichnung der Übertragungslinie, vornehmlich in Schriftwerken und auf Stelen. Diese weisen darauf hin, dass die auf Hongren folgenden Plätze als sechster und siebter Patriarch „heftig umkämpft“ wurden. Den Sieg trug letztendlich Huinengs Schüler Shenhui (神会) davon, dem es gelang, die Anerkennung von Huineng als alleinigen rechtmäßigen sechsten Patriarchen durchzusetzen, wenn auch nur mit Hilfe eines inszenierten Schismas und anderer wenig „buddhistisch“ erscheinender Maßnahmen. Die von Shenhui auf jeweils einen Patriarchen pro Generation festgelegte Transmissionslinie verzweigte sich wieder, nachdem die Anerkennung Huinengs als sechster Patriarch erreicht war. Mit der folgenden Differenzierung einzelner „Sekten“ der Chan-Schule entstand ein Geflecht an „Ahnenfolgen“ und „Verwandschaften“, das bis in die heutigen Tage reicht und von vielen Chan-Adepten leidenschaftlich fortgeführt wird.
Die Transmissionslinie der sechs Patriarchen ist einer der Grundpfeiler der Chan-Schule. Sie ist ein zentrales Element in ihrem Selbstverständnis, zugleich verbürgte sie jahrhundertelang deren Legitimität und besondere Stellung innerhalb des chinesischen Buddhismus. Und wer weiß, vielleicht hätte sich die Chan-Schule als solche, ohne die Aufstellung dieser Genealogie gar nicht klar genug formieren und behaupten können und wäre wieder im Dunkel der Geschichte verschwunden. Ihre Anhänger aber wußten, das Dunkel der Geschichte für sich zu nutzen.
In der Neuzeit angekommen, stellte sich die traditionelle Reihe der Chan-Patriarchen als ein Gebilde dar, das durch den Staub jahrhundertelanger Legendenbildung und Idealisierung weiter ausgeformt, über jeden historischen Nachweis erhaben schien. Durch die Funde von tangzeitlichen buddhistischen Texten in der Oase von Dunhuang wurde das Interesse an den die Entstehung der Chan-Schule begleitenden bzw. bedingenden Geschehnissen wieder geweckt. Eine neue Generation von Buddhismusforschern brachte seit dem Ende der 60er Jahre mehr von dem historischen Anteil dieser „Geschichte“ zum Vorschein. Heute wird die patriarchale Übertragungslinie in weiten Teilen als eine nachträgliche Re-Konstruktion der Geschichte,als historischer „Fake“ angesehen. Verschiedene Vertreter der sich formierenden Chan-Schule waren an ihrer Entstehung und Verbreitung beteiligt; nicht selten schien ihr wesentlicher Zweck darin zu bestehen, dem jeweiligen Vertreter bzw. der von ihm vertretenen Gruppe (alleinige) Legitimität als Repräsentant der Lehre des Buddha zu verschaffen und damit gesellschaftliche Geltung, Macht und Einflussnahme.
Die Halle der sechs Patriarchen, Shaolin-Kloster 2011 (8) |
Die Aufstellung einer Genealogie von Chan-Patriarchen und die Errichtung einer „Halle der Patriarchen“ zur Förderung ihrer offiziellen Verehrung weist Parallelen zur Ahnenverehrung und zu den Ahnenschreinen des chinesischen Kaiserhauses auf.
McRae macht darauf aufmerksam, dass es Traditionslinien schon im indischen Buddhismus und in der buddhistischen Meditationstradition des vierten und fünften Jahrhunderts in Kashmir gab und dass demzufolge die Transmissionslinie der Chan-Patriarchen als eine Verbindung indischer und chinesischer Elemente zu sehen sei. Man solle deshalb nicht leichtfertig der Chan-Schule das Übernehmen konfuzianischer Vorbilder vorwerfen.
Nichtsdestotrotz wird in der Entwicklung der Chan-Schule eine zunehmende Betonung und ein Ausbau solcher Elemente des Buddhismus deutlich, die eben besonders dem Wertesystem des Konfuzianismus und anderer im gesellschaftlichen Leben des chinesischen Kaiserreiches dominierenden Traditionen entsprechen. Dies scheint speziell auf jene Zeit zuzutreffen, in der der noch in einer kreativen Aufbauphase begriffene Chan-Buddhismus gesellschaftlichen Anschluss suchte und fand, und sich in der obersten Gesellschaftschicht etablierte. Nicht nur ein verstärkter „buddhistischer Ahnenkult“, sondern auch eine zunehmende Hierarchisierung der ursprünglich relativ egalitär ausgerichteten klösterlichen Gemeinschaften kamen dem konfuzianisch geprägten Kaiserhaus in vieler Hinsicht entgegen und erleichterten ihm die Unterstützung von Mönchen der Chan-Schule, was diesen wiederum die „Anpassung“ an ihre Unterstützer erleichterte. Letztendlich bezeichnen seit Jahrhunderten die Vertreter der chinesischen Chan-Schule selbst den Chan als ein aus Konfuzianismus, Daoismus und Buddhismus zusammengesetztes Glaubenssystem.
Trotz der mangelhaften Historizität der Transmissionslinie der Chan-Patriarchen und ihrer eindeutig religionspolitischen Funktion sollte nicht vergessen oder missachtet werden, dass die über sie transportierten Inhalte durchaus auch religiöse bzw. philosophische Vorstellungen widerspiegeln. Sowohl in ihrem Kern wie auch in den vielen sie umrankenden Legenden finden sich Geschichten und Bilder von außerordentlicher Aussagekraft und Tiefe, die bis heute viele Menschen berühren.
Fotos:
(1) Statue des Bodhisattva Guanyin, Halle der sechs Patriarchen, Shaolin-Tempel - © copyright yss
(2 bis 5) Außen- und Innenaufnahmen der Halle der sechs Patriarchen, Shaolin-Tempel, aus der Zeit vor dem Tempelbrand 1928, ca. 1920 - © copyright unbekannt
(6 bis 8) Statuen in der Halle der sechs Patriarchen, Shaolin-Tempel, © copyright yss
Die Inhalte dieses Artikels wurden von mir nach bestem Wissen und Gewissen auf ihren Wahrheitsgehalt hin geprüft und erstellt. Letztendlich geben sie meine Reflektion der Dinge wieder. Quellenangaben sind auf Anfrage hin erhältlich.
12.12.2012 - yss Urheberrechtlich geschützt
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